22 Bahnen: Roman

Buchseite und Rezensionen zu '22 Bahnen: Roman' von Caroline Wahl
4.7
4.7 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "22 Bahnen: Roman"

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle. ›22 Bahnen‹ ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
EAN:9783832168032

Rezensionen zu "22 Bahnen: Roman"

  1. 5
    28. Aug 2024 

    Struktur im Chaos oder das Leben zweier Schwestern

    22 Bahnen sind Tildas einziger Freiraum, die einzige Möglichkeit abzuschalten und abzutauchen, ihren Alltag für kurze Zeit hinter sich zu lassen. Deswegen versucht sie so oft es geht, bei nahezu jedem Wetter ins Schwimmbad der Vorstadt, in der sie lebt, zu gehen und dort ihre 22 Bahnen zu schwimmen. Denn ansonsten hat sie der Alltag fest im Griff: Die Studentin kümmert sich täglich um ihre kleine Schwester Ida, die sie nicht mit der alkoholkranken Mutter alleine lassen kann, geht zur Uni, um ihren Masterabschluss in Mathematik zu machen und am Nachmittag in den Supermarkt, um Geld für die Familie zu verdienen. Während Tildas Freunde in die Welt aufbrechen, sich selbst suchen und doch nicht finden, feiern, tanzen und das Leben genießen, hält Tilda für die kleine Ida wenigstens ein Minimum an Normalität aufrecht. Die große Schwester übernimmt die Mutterpflichten und kann doch selbst niemals einfach abschalten. Selbst kleine Freiheiten, wie ein Rave mit Freunden oder ein Date, führen scheinbar zur Katastrophe. Denn Tildas Mutter, die in ihrer eigenen Welt aus Schlafen, Trinken und auf dem Sofa liegen lebt, mutiert im volltrunkenen Zustand regelmäßig zum Monster, das schreit, tobt und die kleine Ida verängstigt. Doch ewig kann Tilda nicht die Hüterin ihrer Schwester sein. Eine Promotionsstelle in Berlin wird ihr in Aussicht gestellt und so versucht Tilda, Ida für das Leben bereit zu machen.
    Es gelingt der Autorin Caroline Wahl Tildas und Idas Geschichte voller Empathie zu erzählen, ohne ins Kitschige abzurutschen. Die Emanzipation der Schwestern von der Mutter, die doch nie eine Mutter war, und dennoch die Einzige ist, die sie haben, ist absolut real und greifbar beschrieben. In diesem Coming-of-Age Roman wird deutlich, dass Alkoholismus nicht einfach nur eine Suchterkrankung eines Menschen ist, sondern eine Bürde für die gesamte Familie. Dabei wird das Thema auch nicht überstrapaziert, mindestens genauso viel Raum nimmt die Entwicklung der Schwestern in dem Roman ein. Und auch das Thema Trauer und Schuld wird thematisiert. Denn Viktor, der ebenfalls seine Bahnen im Schwimmbad zieht, hat seine ganze Familie einst bei einem Autounfall verloren. Tilda war mit Viktors jüngeren Bruder befreundet und so kommen sich beide näher, jeder mit seinem psychischen Gepäck.
    Die stilistische Form, die die Autorin gewählt hat, lässt den Roman wie ein Drehbuch wirken. Die Dialoge sind echt, so texten und sprechen die Twens der Gen Z auch, was dem Roman eine unglaubliche Authentizität verpasst. Und so sind wir ganz nah dran an Tilda und ihren Sorgen, die doch eigentlich eine junge Frau Anfang ihrer 20er so nicht haben sollte. Man ist hautnah dabei und kann sich gut in ihr anstrengendes Leben reinversetzen und mit ihr arbeiten, schwimmen, rechnen, traurig und wütend werden, hoffen, kämpfen und bangen, sich verlieben und leben.
    Denn trotz der schweren Themen liest sich das Buch wie ein Sommerroman, nicht erdrückend und ernüchternd, sondern optimistisch. Das macht es für mich absolut lesenswert.

  1. 3
    20. Okt 2023 

    Eigentlich zwei Liebesgeschichten

    Tilda ist Mathematikstudentin und lebt mit ihrer kleinen Schwester und ihrer Mutter in einer deutschen Kleinstadt. Sie erhält die Aussicht auf eine Doktorandenstelle in Berlin. Das Problem: Kann sie ihre kleine Schwester allein mit ihrer alkoholkranken und depressiven Mutter zurücklassen und nach Berlin gehen ?Der Alltag der Ich-Erzählerin Tilda spielt sich hauptsächlich zwischen ihrem Supermarktjob, ihrem Studium, der Sorge um Schwester und kranke Mutter und ihren täglichen 22 Bahnen ab, die sie im Freibad schwimmt. Hier trifft sie auf Viktor, in den sie sich verliebt, was schließlich in eine hoffnungsvolle Zukunft zu führen scheint.

    Dieser Roman ist unterhaltsam geschrieben und liest sich gut und flüssig. Und dies trotz der ernsten Thematik des Zusammenlebens von Kindern mit hilfsbedürftigen, zeitweise sogar unberechenbaren Eltern wie hier mit der alkoholkranken, gewaltbereiten und lieblosen Mutter. Das Geschwisterpaar Tilda, die ältere, die die Mutterrolle übernimmt und die kleine Schwester Ida scheinen sich selbst Anker gegen die kaltherzige Mutter zu sein. Das wird m. E. gut deutlich. Manchmal erschrickt der Leser regelrecht bei der Lektüre so mancher Situation, in der die Mutter wiederholt ihrer Alkoholsucht erliegt mit Folgen, die man sich für Kinder nicht wünscht.

    Das Freibad ist eine Gegenwelt, in der Tilda und Ida aufatmen können. Die Schilderungen des Ratespiels an der Supermarktkasse, an der Tilda arbeitet, sorgen für Auflockerung und haben mir gefallen. Etwas dick aufgetragen fand ich den Gegensatz zwischen der Familie ihrer Freundin Marlene und Tildas Familie. Marlene, deren Vater Zahnarzt ist und die eine heimeliges Zuhause hat, mit reichlich gedecktem Abendbrottisch und allen Möglichkeiten, die wohlhabende Eltern bieten können: tolle Urlaubsreisen, Auslandssemester etc. Im Gegensatz dazu Tildas Familie, in der das Geld knapp ist und ohne liebende Eltern, die sich kümmern. Den Begriff intakte Abendbrottischfamilie fand ich wiederum gut. Das Ganze erschien mir ein bißchen zu konstruiert. Tilda, hochintelligente Mathematikerin, managt die Lage mit Supermarktjob, kleiner Schwester, Studium mit versäumten Uni-Kolloquien, regelmäßigen Bahnen im Freibad, was für ein Programm ! Und erhält sogar die Aussicht auf eine Doktorandenstelle. M. E. etwas unglaubhaft, genau wie die doch sehr patente kleine Schwester.

    Dennoch ist es anrührend erzählt, man schließt das Geschwisterpaar ins Herz und freut sich über die Liebesgeschichte, die sich im dritten Teil zwischen Viktor und Tilda entwickelt Eigentlich sind es zwei Liebesgeschichten, die erzählt werden: die innige Liebe zwischen den Geschwistern und die Liebe zwischen Tilda und Viktor. Kann man lesen, muß man aber nicht.

    Ich vergebe 3 Sterne.

  1. 5
    09. Jul 2023 

    Mitreißend und meisterhaft geschrieben

    Tildas Leben dreht sich auf der einen Seite um Zahlen, um ihr Mathestudium – auf der anderen Seite um ihre alkoholkranke Mutter und ihre kleine Schwester, wegen denen sie in jederlei Hinsicht zurücksteckt und ein eigenes, unabhängiges Leben bislang auf Eis gelegt hat. Nun aber winkt eine Promotion im weit entfernten Berlin und Tilda muss sich fragen, ob es doch möglich wäre, ihren Traum zu leben.
    Was für ein kurzer, aber doch so soghafter Roman! Als Leser ist man unheimlich schnell in Tildas Alltag und die damit verbundenen Probleme, ihre Familie und ihr eigenes Leben, ihre eigenen Träume unter einen Hut zu bekommen, abgetaucht. Das liegt zum einen an der schlichten, aber in ihrer Schlichtheit geradezu poetischen Sprache, zum anderen aber auch an der Protagonistin, denn es ist einfach unmöglich, dass einen ihr innerer Kampf kalt lässt.
    Da ist natürlich auch noch Viktor, der ohne Zweifel auch eine interessante Figur ist. Aber ganz besonders spannend fand ich Tildas Beziehung zu ihrer Schwester und deren Entwicklung im Laufe des Buches. Es gab so viele besondere Momente, kleine Details, die sie zusammen erlebt hatten, kleine Angewohnheiten oder Rituale, die das Ganze unheimlich real wirken ließen.
    Insgesamt war „22 Bahnen“ für mich eine überraschend mitreißende und meisterhaft geschriebene Geschichte und definitiv ein Lesehighlight in diesem Jahr.

  1. 5
    01. Jul 2023 

    Beeindruckendes Debut

    Die in Mainz geborene und heute in Rostock lebende Autorin hat mit 28 Jahren ein erstaunliches Debut hingelegt.
    Dass Caroline Wahl hier eine fiktive Geschichte erzählt und nicht ihre eigene, betont sie mit der vorangestellten Widmung : „ Für meine Mama, die immer da ist.“
    Das Leben der Ich- Erzählerin Tilda ist streng durchstrukturiert; es hat so gar nichts von einem lockeren Studentenleben. Während ihre Schulkameraden und Freunde nach dem Abitur die kleine Heimatstadt verlassen haben, um in coolen Großstädten wie Berlin oder Amsterdam zu studieren oder irgendwelchen Jobs nachzugehen, ist Tilda geblieben. Denn sie kann ihre jüngere Schwester, die 10jährige Ida nicht allein lassen mit der alkoholkranken Mutter. Nie weiß Tilda, was sie abends daheim erwartet. Liegt die Mutter völlig apathisch und betrunken auf dem Sofa oder ist sie mal wieder wegen einer Kleinigkeit ausgerastet und hat Ida grün und blau geschlagen? Dann gibt es die nächsten Abende verbrannte Spiegeleier als Wiedergutmachung.
    Nachdem Tildas Vater vor Jahren die Familie verlassen hat, begann der Absturz der Mutter. Um Ida hat sich von Anfang an die große Schwester gekümmert.
    Das heißt nun, dass Tilda neben ihrem Mathematikstudium noch einen Job an der Supermarktkasse hat, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Kraft gibt ihr der tägliche Besuch im Schwimmbad. Hier schwimmt Tilda ihre 22 Bahnen, bevor sie heimkehrt in das traurigste Haus in der Fröhlichstraße.
    Da kommt eines Tages ihr Professor mit dem verlockenden Angebot für eine Promotionsstelle in Berlin. Das stellt die junge Frau vor eine schwere Entscheidung. Hier endlich die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben, da die Verantwortung für die jüngere Schwester.
    Für zusätzliche emotionale Verwirrung sorgt Viktor, der genau wie Tilda seine abendlichen Bahnen schwimmt. Auch er ist eine verletzte Seele, denn er hat eine familiäre Katastrophe hinter sich. Die beiden kommen sich zögerlich näher, auch weil Tilda früher mit Viktors jüngerem Bruder befreundet war.

    Caroline Wahl zieht einem von Anfang an in Bann mit ihrer Geschichte. Das liegt zum einen an der Hauptfigur, die lebensecht und sympathisch wirkt. Es ist rührend, wie fürsorglich sich Tilda um ihre Schwester kümmert, dafür sorgt, dass das Mädchen pünktlich in die Schule kommt und was Anständiges zum Essen hat. Aber sie sorgt sich genauso um deren seelisches Wohlbefinden, tröstet und stärkt sie. Ida ist introvertiert, sie geht z.B. nur an Regentagen mit ins Schwimmbad, weil sie den Kontakt mit fremden Menschen scheut. Ihre Emotionen verarbeitet sie beim Malen von phantasievollen und ausdrucksstarken Bildern.
    Ein immer wiederkehrendes Motiv im Roman ist ein Spiel, das Tilda an der Supermarktkasse mit sich selbst spielt: Sie versucht den Typ Mensch zu erraten, der hier einkauft und zwar nur anhand der Waren auf dem Band. Meistens liegt sie hier ganz richtig. Und wenn dann später einige Produkte der Gut&Günstig- Varianten durch den Scanner gezogen werden, weiß der Leser, dass Tilda nun den eigenen Einkauf tätigt.
    Es mag irritieren, dass die Autorin die meisten Zahlen nicht ausschreibt, sondern als Ziffern stehen lässt. Doch das passt zur Protagonistin, die als Mathematikerin Struktur und Halt in Zahlen findet. Den braucht sie, denn das Zusammenleben mit einem alkoholkranken Menschen ist unberechenbar, wie Carolin Wahl eindrucksvoll darstellt.
    Eine große Stärke des Romans liegt auch in den Dialogen, die knapp, aber lebendig, z.T. ironisch und sehr jugendlich daherkommen. Dabei bringen sie Tempo in den Text, denn oft werden sie wie bei einem Theaterstück nur mit Namen und Doppelpunkt eingeführt .
    Am Bild der „ Abendbrottisch-Familie“ bringt die Autorin treffend den Unterschied zwischen Tildas Zuhause und dem einer „ normalen Familie“ auf den Punkt. Bei einer Freundin erlebt Tilda während ihrer Schulzeit, was ein harmonisches Familienleben ausmacht: gemeinsames Essen mit verschiedenen leckeren und gesunden Beilagen und anregenden Gesprächen.
    Solche Bilder und Sätze, die bleiben, finden sich einige im Buch.
    Große Kunst ist es, dass der Roman trotz der Schwere des Themas seine Leichtigkeit behält. Mit viel Emotionen, großem Interesse und voller Spannung habe ich Tilda während diesem entscheidenden Sommer begleitet.
    Es ist eine typische Coming-of-Age-Geschichte, denn nicht nur Tilda, sondern auch Ida macht eine entscheidende Entwicklung durch. Doch es ist kein Roman, der nur jugendliche Leser anspricht, überhaupt nicht.
    „ 22 Bahnen“ ist das feinfühlig gezeichnete Porträt einer starken jungen Frau und die anrührende Geschichte einer liebevollen Schwestern- Beziehung. Ein vielversprechendes Debut von einer Autorin, auf deren weitere Bücher ich mich freue.

  1. ins kalte Wasser

    Tilda, Anfang 20, hat es nicht leicht - für ihr Alter muss sie sich mit ganz schön vielen Themen herumschlagen. Ihre Mutter ist Alkoholkrank, sie muss sich um ihre Schwester kümmern. Auch Gewalt gibt es in ihrem Zuhause.
    Neben dem Studium jobbt sie an der Supermarktkasse, und kann nicht Weltreisen oder ähnliches wie ihre Freunde machen. Sie kann nur zuschauen, denn sie hat weder Zeit noch Geld für diese Dinge.
    Die Beziehung der beiden Schwestern ist sehr besonders. Mir hat gefallen zu lesen, wie sie sich zusammen durchschlagen, und früh schon selbstständig sein zu müssen. Zusammen erkämpfen sie sich ihre kleinen Freiheiten.

    Das Buch ist aus der Sichtweise von Tilda erzählt, das gefällt mir sehr gut; so bekommt man einen guten Einblick in ihre Gefühlslage.

    Ein wirklich schön-trauriger Roman, der einem beim Lesen berührt. Ich kann das Buch absolut empfehlen.

  1. Liebevolle Coming-of-Age Geschichte, sehr berührend.

    Tilda studiert Mathematik und schreibt ihre Abschlussarbeit. In der Mathemaik fühlt sie sich wohl, Zahlen geben Tilda Ordnung und Sicherheit. Seit ihr Vater Tilda und die Mutter verlassen hat, verschlechtert sich der Zustand der Mutter zunehmend- sie ist Alkoholikerin. Aber Tilda bekommt kurze Zeit später noch eine Schwester Ida und wird für sie wie eine Mutter. Als ihr Professor Tilda nahelegt, sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben, ist sie hin und hergerissen. Einerseits sorgt sie sich um ihre nun 10jährige Schwester, andererseits ist sie stolz und glücklich über das Angebot. Und dann sind da auch noch Viktor, schwer zu verarbeitende Schicksalsschläge und riesige Libellen.

    Caroline Wahl erzählt hier eine Coming-of-Age Geschichte in sehr frischer Art und Weise. Gleich der Beginn, wo Tilda im Nebenjob an der Supermarktkasse anhand der gekauften Dinge errät, wen sie vor sich hat, bevor sie den Blick hebt, ist super erfrischend und macht direkt Lust weiterzulesen. Ansonsten ist der Stil eher nüchtern. Viele Zahlen begegnen uns - Tildas Sicherheiten im Leben - alles wird gezählt. Besonders, wenn sie unsicher ist. Schöner Kniff! Auch sonst verstehe ich die Knappheit der Sprache als stilistische Finesse, um Tildas unsicheren und gleichzeitig kämpferischen Charakter zu zeichnen. Das ist der Autorin supergut gelungen.

    Und dann haben wir die kleine Schwester Ida, die quasi von Tilda großgezogen wird, weil die Mutter abwechselnd im Alkoholrausch oder in einer Depression gefangen ist.

    Wie dieses Leben funktioniert und wie traurig es oft für die Mädchen ist, wird eindrucksvoll geschildert. Augenmerk wird hier auf die Mädchen gelegt, die gezwungen sind, sich in einer solchen dysfunktionalen Familie zurechtzufinden. Toll ist die Entwicklung der kleinen Tilda zu beobachten. Vielleicht ist im Roman am Ende vieles anders geschildert, als es in der Realität ist. Das kann ich schlecht beurteilen. Ich frage mich zum Beispiel, warum das Jugendamt nicht ein einziges Mal auf der Matte steht während der ganzen Jahre. Und ob ich meine 10jährige Schwester mit der kranken Mutter allein lassen würde, um zu promovieren… Oder auch, ob sich ein so junges Kind bereits von der (aufgrund ihrer Krankheit) zerstörerischen Mutter befreien kann… Am Ende sind ein paar Fragen offen, wie es wohl weitergeht. Es ist dennoch ein hoffnungsvolles Ende.

    Sehr zartfühlend, behutsam und gleichzeitig mit einer angenehmen erzählerischen Frische liest sich das Debüt von Caroline Wahl. Eine Liebesgeschichte von der Liebe zwischen Schwestern und auch der Liebe zweier traumatisierter, sehr vorsichtiger Menschen zueinander. So sanft, dass mir zuweilen das Wasser in die Augen gestiegen ist. Wirklich schön und trotz kleiner Abstriche/offener Fragen sehr zu empfehlen. 4,5*

  1. 5
    28. Mär 2023 

    In 22 Bahnen zum Highlight

    Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

    Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte Zwanzig, studiert Mathematik und hat einen Nebenjob, um etwas hinzuzuverdienen und geht zum Ausgleich jeden Abend 22 Bahnen ins Freibad schwimmen. Klingt erst einmal ganz durchschnittlich. Ganz so durchschnittlich sieht ihr Leben bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr aus. Denn Ihre Mutter ist Alkoholikerin und schon seit vielen Jahren nicht mehr fähig die Familienangelegenheiten am Laufen zu halten. Die 10jährige Halbschwester Ida lebt in sich zurückgezogen, malt Bilder von Mensch-Tier-Monstern und hat nur ihre große Schwester, die sie beschützt. Der Vater von Tilda verließ die Familie früh, Idas Vater ist nicht bekannt, war noch nie anwesend. Mit dem Nebenjob finanziert Tilda nicht nur ihr Studium sondern auch noch ihre Familie, welche am unteren Existenzminimum lebt.

    Nun könnte man meinen, dass es sich hierbei um eine weitere stereotypische Betrachtung einer bildungsfernen Familie in der untersten sozioökonomischen Schicht handelt. Aber weit gefehlt, die Mutter stand kurz vor ihrem Magisterabschluss im Literaturstudium, als sie mit Tilda schwanger wurde, das Studium abbrach und seitdem die meiste Zeit zu Hause blieb; zunächst für das Kind, später aufgrund des Alkohols. Der Vater war damals Doktorand im Germanistischen Seminar und ist mittlerweile Professor. Trotzdem lässt er sich in seiner ersten Familie nicht mehr blicken, seit er eine neue Familie mit neuen Kindern hat. Tilda lernte schnell den Unterschied zwischen ihrer Familie und der Familie ihrer besten Freundin Marlene, die aus der gut situierten Mittelschicht stammt, denn bei ihnen gab es immer einen Abendbrottisch, an dem alle zusammen aßen und sich unterhielten. Diese intakten Familien nennt sie seitdem nur noch „Abendbrottisch-Familien“.

    Wirklich unglaublich mitreißend inszeniert Caroline Wahl nun Tildas und Idas Leben, ihren Zusammenhalt und auch ihre Abhängigkeit voneinander, die Tilda daran hindert mit ihrem eigenen Leben voranzukommen. Das macht die Autorin über eine klare Sprache mit Bildern, die hängen bleiben, wie eben die „Abendbrottisch-Familie“ und Sätzen, die sich einbrennen. Zunächst ist man erst einmal verwundert, wenn die Autorin alle Zahlwörter als Ziffern schreibt. Man fragt sich, ob sich hier nun die neumodische Kurznachrichtenschreibweise eingeschlichen hat, wenn die Erzählerin zum Beispiel meint, dass sie 3-mal jemanden getroffen hat. Aber dann wird es klar, die Ich-Erzählerin ist Mathematikstudentin, seit sie ein Kind ist, denkt sie in Zahlen und Ziffern, zählt alles und jeden ab, rechnet automatisch zusammen, stellt Analysen aufgrund dessen her. So auch, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt, nicht aufsieht und die Artikel auflistet, die sie gerade über den Scanner zieht, dann entwirft sie im Kopf einen kurzen Steckbrief zur vermuteten Person und überprüft ihre Hypothese dann durch Anschauen der Person. Meist liegt sie richtig.

    In der Quintessenz geht es im Familie und vor allem Schwesternschaft in diesem Buch. Die Liebe zwischen diesen beiden Halbschwestern ist so wunderbar, dass sie die Lesenden über die schrecklichen Passagen, in welchen die Mutter mal wieder beweist, was für eine miese Mutter sie ist, wenn sie gewalttätig wird und von Tilda nur noch „das Monster“ genannt wird, hinwegrettet. Aber auch die Protagonistin und ihre Schwester rettet diese Liebe. Einmal sagt Tilda über ihre Beziehung zu Ida:

    „Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie [die Mutter]. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwester. Zu 100 Prozent.“

    Dadurch lastet aber auch schon seit Jahren eine große Verantwortung auf Tilda und wie sie damit im Laufe des Buches lernt umzugehen und sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht zu vergessen, darum geht es hier auch.

    Mich hat das Buch vollkommen in seinen Bann gezogen. Ich bin diesem Schwesternpaar so unglaublich gern gefolgt, obwohl hier alles andere als Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung herrscht. Bei folgender Gleichung kann es nur eine logische Schlussfolgerung geben: Wenn ich nichts am Buch auszusetzen habe + es innerhalb von einem Tag gespannt eingesogen habe + mich die Geschichte sowie die Figuren emotional sehr berührt haben + ich kaum abwarten kann zu lesen, was die Autorin nach diesem starken Debüt schreibt = 5,0 Sterne. Zu 100 Prozent sicher.

    5/5 Sterne